Ganz im Gegenteil dazu wird Emily St. Aubert, die Heldin in Udolpho, von ihrem Vater zu einem Höchstmaß an Rationalität erzogen. Aber das ist auch schon das einzige tatsächlich Rationale an diesem Buch, das 1794 zum ersten Mal veröffentlicht wurde und weit entfernt ist von der Struktur dessen, was die Damen Brontë oder Jane Austen geschrieben haben.
Die Handlung ist dementsprechend abstrus: Emily, von Herzen geliebt von ihren Eltern, verwaist plötzlich und findet sich in der Obhut ihrer selbstsüchtigen Tante, Madame Cheron, wieder. Diese heiratet den düsteren Montoni, der die Damen erst nach Venedig mitnimmt und dann in seine finstere Burg Udolpho im Apennin. Dort wird Madame Cheron, jetzt Madame Montoni, von ihrem Mann nach diversen Konflikten im Turm eingesperrt, damit sie ihrem hoch verschuldeten Angetrauten ihr Vermögen überschreibt. Sie weigert sich, stirbt und in der Folge ist ihre Erbin Emily Montonis Machenschaften und den Aufdringlichkeiten diverser "Banditti" ausgeliefert. In Udolpho wimmelt es nur so von scheinbar mysteriösen, übersinnlichen Vorkommnissen, die nach und nach auf eher haarsträubende Art erklärt werden. Genauso haarsträubend ist Emilys Flucht aus der Burg, die Entdeckung von unbekannten Verwandten, ein plötzlicher immenser Geldsegen und die Wiedervereinigung mit ihrem Geliebten Valancourt. Dazwischen wird gelitten, geweint, gebibbert und gestritten, dass es eine wahre Freude ist. Es gibt böse Banditti, ein Kloster, Adlige, die auf mysteriöse Weise verschwunden sind, und einen ganzen Satz an ergebenen Bediensteten.
In dem Moment, wo man all das, was man über gute Literatur zu wissen meint, ignoriert, kann man unglaublich viel Spaß mit diesem Buch haben, das einem die Emotionen mit dem Eimer überkippt und in dem es keine Grauzonen gibt.