Eddy Bellegueule, geboren 1992, wächst in einem ärmlichen Dorf in Nordfrankreich auf. Der Vater Alkoholiker, Fabrikarbeiter, aber ein echter Kerl. Homophob und rassistisch. Die Mutter Hausfrau und Teilzeit-Altenpflegerin, darf bloß nicht mehr verdienen als der Mann im Haus, denn das hält dessen Ego nicht aus, und das führt dann zu Alkoholexzessen und (verbalen) Gewaltausbrüchen. Man verachtet alles, was fremd oder gebildet ist, es ist cool, die Schule abzubrechen und sich bis zur Bewusstlosigkeit zu trinken, und Eddy ist ein Fremdkörper. Er spricht mit hoher Stimme, er interessiert sich nicht für Fußball, sondern für die Kleider seiner Schwester. Er ist anders, und das lässt man ihn spüren, gern auch mit körperlicher Gewalt.
Herzzerreißend und schonungslos beschreibt Édouard Louis, so heißt er jetzt, seine eigene Kindheit, die man fünfzig Jahre zurückdatieren möchte, mindestens, aber all das, was er beschreibt, passierte vor zehn Jahren und jetzt auch noch. Mittlerweile ist er ein gefeierter Autor in Paris, das Verhältnis zur Familie aber nach wie vor angespannt, was einen nicht weiter wundert.
Ich merke immer wieder, in was für einer liberalen Blase ich lebe, und dieses Buch hat mir brutal vor Augen geführt, dass es in weiten Teilen Europas und der Welt nicht selbstverständlich ist, schwul oder lesbisch oder sonstwie "anders" zu sein. Aber was heißt schon anders? Sind wir nicht am Ende alle in irgendeiner Form anders?
Ich bin zornig auf diejenigen, die sich anmaßen zu entscheiden, was okay anders und was nicht okay anders ist und meistens ohnehin nur versuchen, damit von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.
Lesen, und den Mund aufmachen, wenn's nötig ist, bitte! (Zum Beispiel nächsten Sonntag.)