The Handmaid's Tale hat mich damals eher traumatisiert und für ihre Gedichte war mein Englisch längst nicht gut genug, um auch nur ansatzweise zu begreifen, was sie sagen will.
Vielleicht hat es deshalb so lange gedauert, bis ich mich an Alias Grace gewagt habe.
Vordergründig scheint es ein Buch über Sex und Gewalt zu sein. Zu Beginn -um 1860 in Kanada - ist Grace Marks seit fünfzehn Jahren eingesperrt, verurteilt wegen des Mordes an ihrem früheren Arbeitgeber und seiner Haushälterin.
Ist sie schuldig oder nicht? Und wenn ja, wie schuldig ist sie? Das sind scheinbar die zentralen Fragen in diesem Buch, und um diese zu beantworten, kommt der junge Arzt Simon Jordan in die kanadische Provinz. Er will Grace untersuchen, aber nicht, indem er ihren Kopf vermisst wie alle anderen, sondern indem sie ihm ihre Geschichte erzählt.
Und wie sie erzählt. Klug und raffiniert wie eine sperrige Scheherazade, erzählt sie von ihrer Kindheit in Irland, von der Überquerung des Atlantiks. Von ihrem trinkenden, gewalttätigen Vater und der Mutter, die nie Kanada zu sehen bekommt. Von ihrer ersten Stelle als Hausmädchen und von Mary Whitney, ihrer Freundin, die eine demokratische Gesinnung hat und auch sonst eher unüblich ist.
Sie erzählt. Aber sie erzählt nur das, was sie erzählen will.
Bis die anfangs entscheidend erscheinenden Seiten kommen und der Mord passiert, ist man mitten im Sog dieser Geschichte, dieser Charaktere, und Grace Marks ist eine der faszinierendsten Figuren, die jemals Buchseiten belebt haben.
Klug spielt Margaret Atwood mit der Schuldfrage, wirft Fragen auf, die sich im eigenen Kopf verhaken, nur das Ende, das ist plötzlich viel zu schnell da.
Unbedingt lesen - oder alternativ die Netflix-Serie anschauen, die ist fast genauso gut (wenn auch fürchterlich poliert).