Ich hatte einen Meilenstein der feministischen Literatur erwartet - schließlich hieß George Eliot in Wirklichkeit Mary Anne Evans und war- Überraschung - eine Frau. Eine Frau, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz offen mit einem Mann zusammenlebte, mit dem sie nicht verheiratet war.
Middlemarch bleibt aber trotz dieser Hintergründe leider ein bisschen blass und trotz ihrer interessanten Ansätze sind mir die Protagonisten fremd geblieben. Vielleicht hat mir Dickens' Herzenswärme gefehlt oder seine bisweilen abstrusen Plots, die mich trotzdem immer immer mitreißen.
Tatsächlich passiert in Middlemarch relativ wenig, obwohl die Charaktere zahlreich sind. Es gibt eine intellektuelle junge Frau, die den falschen Mann heiratet und nach seinem Tod damit kämpft, aus der ihr zugedachten Rolle auszubrechen. Sie tut es am Ende, aber ich hätte mir mehr Drama gewünscht und weniger vornehme Zurückhaltung.
Es gibt den idealistischen Arzt, der die falsche Frau heiratet und sich in das Schicksal eines Arztes für reiche Patienten ergibt, wo er doch Pläne hatte, das komplette Gesundheitssystem zugunsten der weniger Betuchten zu reformieren.
Es gibt verschuldete Nichtsnutze, mürrische Erbonkel, bigotte Matronen und trottelige Familienmitglieder. Middlemarch ist ein Ort, an dem man Veränderungen nicht gern sieht, und Ausländer, Juden und Künstler auch nicht. Alles Fremde ist verdächtig.
Middlemarch ist nicht der Ort, an dem man viel Zeit verbringen möchte, und ich wünschte mir, die Andersdenkenden hätten den Mund etwas energischer aufgemacht.
Middlemarch ist aktueller, als man wahrhaben möchte.