Und nun habe ich endlich das vielleicht Berühmteste von Dickens' Büchern gelesen, sicher aber das, was ihm persönlich am meisten am Herzen lag: David Copperfield - und tatsächlich Fragen dazu beantworten müssen, wie es kommt, dass Dickens ein Buch mit diesem Namen geschrieben hat, und ob er am Ende ein Magier...? Nein, ist er nicht, und dass der amerikanische Vollführer von kitschigen Disney-Zaubershows sich den Namen geklaut hat, weil ihm der Klang gefiel, nicht etwa, weil er das Buch gelesen hat, ist ein Grund für großen Unmut meinerseits.
Aber ich schweife ab.
David Copperfield ist so herzerwärmend und so voller liebenswerter, schräger Figuren, wie man es von Dickens gewohnt ist, und dass ich am Ende ein klein wenig geweint habe, zwar selten, aber nicht überraschend. Dickens vermag es mit einer faszinierenden Perfektion, Intelligenz, Kreativität und Gefühl zu vermischen, und das alles so zu schreiben, dass man das Buch bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen mag.
In jedem der Dickens-Bücher, die ich bisher gelesen habe, gab es eine Nebenfigur, die mir besonders ans Herz gewachsen ist - Mr. Pancks in Little Dorrit, Mr. George in Bleak House usw. Bei David Copperfield waren diese Figuren so zahlreich, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll - Davids Freund Traddles steht ganz weit oben, aber genauso die ganze Peggotty-Familie. Definitiv habe ich aber mein Herz an Davids resolute Tante Betsey Trotwood verloren, die hinter ihrer rauen Schale einen butterweichen Kern verbirgt. Und so komme ich zu meinem einzigen Problem mit Dickens' Büchern - seinen weiblichen Figuren. Nicht die ehrbar Verheirateten oder die alten Jungfern, und auch nicht die Dienstboten, die sind alle genau so schräg und liebenswert wie man es erwartet.
Aber diese Originalität geht komplett verloren, wenn es an die Darstellung junger Damen im heiratsfähigen Alter geht, und ich frage mich, was für ein Ideal Dickens diesbezüglich hatte. Es ist ja löblich, wie unglaublich gütig und aufopfernd Charaktere wie Esther Summerson, Amy Dorrit oder Agnes Wickfield sind, aber auch ziemlich langweilig. Manchmal wünschte ich mir hier einen Schuss Hardy, um der Sache mehr Farbe zu verleihen, vor allem, weil ich denke, dass ein David Copperfield es durchaus mit einer etwas selbstbewussteren Frau aufnehmen könnte.
Am Allerschlimmsten ist Dora, Davids erste Frau, die so kindisch ist, dass es beinahe nicht auszuhalten ist, und deren Gekicher und Gejammer und offensichtliche geistige Reduziertheit mir dermaßen auf die Nerven gingen, dass ich - der sensible Leser möge das entschuldigen - froh war, als sie endlich tot war.
Auch der Skandal bezüglich Emily, die mit Davids Schulfreund, dem schillernden Steerforth, davonläuft, um es (natürlich) später bitter zu bereuen, wirkt aus heutiger Sicht etwas angestaubt - ein bisschen mehr Feminismus hätte hier gut getan. Aber wer bin ich, mich über einen Schriftsteller zu beschweren, der mir so viele schöne Stunden bereitet?