Es gibt solche, die ich zu meinen Lieblingsbüchern zähle (Atonement - Abbitte, The Children Act - Kindeswohl) und andere, die ich nur wegen meiner unerschütterlichen Disziplin (!) überhaupt zu Ende gelesen habe (Solar). The Innocent - Unschuldige ist irgendwo in der Mitte angesiedelt, etwa auf einem Level mit Sweet Tooth - Honig.
Jetzt habe ich es ohne jede Absicht geschafft, alle Bücher aufzuzählen, die ich von Ian McEwan bisher gelesen habe. Das heißt, ich muss auch das nächste auf meiner Liste noch erwähnen: Nutshell - Nussschale erzählt die Hamlet-Geschichte neu, und zwar aus der Sicht von Baby-Hamlet. Wenn das kein Muss ist.
The Innocent ist eigentlich auch ein Muss für anglifizierte Berliner*innen wie mich. Die Lektüre dieses in Berlin angesiedelten, anfangs als Spionage-Geschichte angelegten Romans führt dazu, dass man am Brandenburger Tor lesend auf die nächste Bahn wartet und dabei liest, wie Leonard Marnham, die Hauptfigur, an eben jenem Brandenburger Tor die Grenze nach Ostberlin überquert. (Es führt auch dazu, dass man in besagter Bahn auf das Buch angesprochen wird, aber das ist eine andere Geschichte.)
Leonard Marnham ist ein junger Techniker, der Mitte der Fünfzigerjahre in Berlin stationiert wird. Mithilfe der Briten sind die Amerikaner dabei, im Süden der Stadt einen Tunnel bis unter den russischen Sektor zu graben, um sie abzuhören. Soviel zur Rahmengeschichte. Leonard verliebt sich in die Deutsche Maria, und je weiter das Buch voranschreitet, umso mehr Raum nimmt die Liebesgeschichte ein.
Mehr sei hier nicht verraten, nur eins bleibt anzumerken: das Buch ist nichts für zarte Gemüter. In der zweiten Hälfte wird es aus heiterem Himmel ziemlich ekelhaft, was ich so nicht erwartet habe. Grundsätzlich ist das in Ordnung, aber diese ekelhaften Dinge waren dann doch etwas zu detailliert beschrieben für meinen Geschmack. Vielleicht bin ich ein zu zartes Pflänzchen, ich halte mir ja auch bei Game of Thrones oft die Augen zu.
Aus literarischer Sicht hat mich der Plottwist auch nicht so ganz überzeugt, aber trotzdem ist The Innocent ein spannendes Buch - ich entdecke seit dem Night Manager meine Vorliebe für Spionagekram, und ich kam auch nicht umhin, mir Leonard als eine Art jüngeren, wesentlich naiveren Jonathan Pine vorzustellen.
Eine gewisse Ortskenntnis in Berlin verhilft außerdem zu mehr Lesegenuss - wer jemals in der Adalbertstraße oder am Kottbusser Tor war, wird die Beschreibung, wie es dort vor sechzig Jahren aussah, hübsch absurd finden.