Vielleicht liegt es an meinen vergangenen und stetig näher kommenden Reisen über den Atlantik, dass ich mich langsam amerikanischer Literatur zuwende, vielleicht aber auch nur daran, dass ich endlich erkannt habe, was ich bisher versäumt habe. Mit Henry James hatte ich ein paar Probleme, aber auf Edith Wharton trifft das so gar nicht zu.
Ihre Lily Bart, die Hauptfigur dieses 1905 erstmals erschienenen Buches, ist ein so moderner Charakter, dass von Anfang an klar ist, dass ihre Geschichte keine besonders Glückliche sein wird. Verwaist und ohne (wirkliche) Freunde oder Familie, ist sie ganz auf sich gestellt bei der komplexen Aufgabe, die Feinheiten der guten New Yorker Gesellschaft zu meistern. Und tatsächlich ist sie eine Meisterin darin - schön, bewundert, beliebt und begehrt. Trotzdem ist ihr es ihre Klugheit, ihre Ehrlichkeit und ihr Unwille, sich im wahrsten Sinne des Wortes von einem dieser zahlreichen Bewunderer als Ehefrau kaufen zu lassen, die ihr mehrmals zum Verhängnis wird. Sie durchschaut die Machenschaften der Gesellschaft, der sie angehört, und ist trotzdem unfähig, auf all den Luxus und die Annehmlichkeiten zu verzichten, die sie sich eigentlich nicht leisten kann.
Es ist eine Tragödie, die sich über vierhundert Seiten abspielt, und trotzdem fehlt es dem Buch nicht an Witz und Ironie, an denkwürdigen Charakteren und fantastischen Szenen auf Yachten, in Sommerhäusern und auf New Yorks Straßen.
Mit Lawrence Selden hat Edith Wharton außerdem eine Figur geschaffen, die es gerade so auf die Liste meiner Literary Crushes schaffen könnte.
Sehr, sehr schön. Allerdings trotz der tragischen Momente eher eine Sommerlektüre.